Wolf und Dick: „Es muss alles getan werden, um zu verhindern, dass die beginnende wirtschaftliche Erholung durch einen ‚harten Brexit‘ belastet wird“
Stuttgart, 29.06.2020 – Die Spitzenorganisationen der baden-württembergischen Wirtschaft warnen vor einem möglichen Scheitern der Handelsgespräche zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich: Zum 1. Juli läuft die Frist aus, in der Großbritannien eine Verlängerung der Übergangszeit im EU-Binnenmarkt und der Zollunion hätte beantragen können. „Die Briten haben einer Verlängerung eine Absage erteilt. Damit bleibt nur noch ein sehr kurzer Zeitraum für den Abschluss eines Handelsabkommens“, sagten das Geschäftsführende Vorstandsmitglied des Landesverbands der Baden-Württembergischen Industrie (LVI), Wolfgang Wolf, und der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeber Baden-Württemberg, Peer-Michael Dick, am Montag in Stuttgart: „Da ein Handelsabkommen auch noch durch die Parlamente ratifiziert werden muss, müsste es bis Oktober oder allerspätestens Anfang November abgeschlossen sein, um noch rechtzeitig vor Ablauf des Jahres in Kraft treten zu können. Der bisher kommunizierte Verhandlungsfortschritt ist allerdings völlig unzureichend, es konnten bislang keinerlei nennenswerte Ergebnisse erzielt werden.“
Ein Scheitern der Gespräche würde den von der Coronakrise sowieso schon hart getroffenen Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals einen weiteren schweren Schlag versetzen, warnten Wolf und Dick: „Die Bremswirkung auf Außenhandel und wechselseitige Investitionen würde auf EU-Seite insbesondere die exportorientierte Wirtschaft Deutschlands und Baden-Württembergs treffen.“ Das Vereinigte Königreich belegt sowohl in der Export- als auch in der Importstatistik Deutschlands und Baden-Württembergs seit Jahren einen vorderen Platz. Sollte bis Ende dieses Jahres kein Handelsabkommen zustandekommen, würden die heimischen Unternehmen ab 2021 nicht nur mit Zöllen und erheblicher Zollbürokratie im Handel mit Großbritannien belastet. „Durch die Verzögerungen an den Häfen aufgrund der dann notwendigen Zollabfertigungen würden auch sorgfältig abgestimmte Lieferketten zerstört“, warnten die beiden Wirtschaftsvertreter.
Zudem würde ab 2021 auch das EU-Binnenmarktrecht in Großbritannien keine Anwendung mehr finden, und die Unternehmen müssten sich neben den Zollfragen weiteren Herausforderungen stellen, beispielsweise bei der Entsendung von Arbeitnehmern, dem freien Datenverkehr und der Zulassung von Produkten. „Dies würde die Wirtschaftsbeziehungen zusätzlich belasten“, so Wolf und Dick.
Ein Scheitern der Gespräche müsse unbedingt vermieden werden, betonten die beiden Verbandsvertreter: „Jetzt muss es darum gehen, pragmatische Lösungen zu finden. Der britische Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben jüngst vereinbart, ihre Verhandlungsdelegationen nun intensiver tagen zu lassen. Das ist zumindest ein erstes ermutigendes Zeichen. Den Briten muss allerdings klar sein, dass sie nicht aus der EU austreten und gleichzeitig alle Vorteile einer Mitgliedschaft behalten können.“
Der Verhandlungsendspurt wird in der am 1. Juli beginnenden halbjährigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft stattfinden. „Die Bundesregierung sollte das Handelsabkommen ganz oben auf die Agenda ihrer Präsidentschaft setzen. Es muss alles getan werden, um zu verhindern, dass die beginnende wirtschaftliche Erholung in Europa durch einen ‚harten Brexit‘ belastet wird“, mahnten Wolf und Dick: „Die Handelsbeziehungen auf beiden Seiten des Kanals müssen so eng wie möglich gestaltet werden, um den Unternehmen auch künftig einen unkomplizierten Marktzugang zu erlauben. Das zu erreichen, wird sicherlich ein hartes Stück Arbeit. Aber es lohnt den Einsatz.“